Portrait von Dr. André Schaffrin in Anzug und Krawatte
Über Wasser

Fakten und Wissenschaft: Vertrauen an der Tideelbe

Wenn Bürgerinnen und Bürger wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vertrauen, fehlt die Grundlage für eine sachliche Debatte. Diese Erfahrung hat auch die HPA an der Tideelbe gemacht. Wir sprachen mit Dr. André Schaffrin von der ifok GmbH. Er ist gemeinsam mit der NGO „Progressives Zentrum“ im Auftrag der HPA der Frage nachgegangen, wie Misstrauen entsteht und wie Vertrauen aufgebaut werden kann.

Die HPA wollte verstehen, warum Menschen Institutionen und wissenschaftlichen Studien vertrauen – oder warum sie es eben nicht tun. Warum?

Infrastrukturmaßnahmen in Deutschland stehen oft vor folgender Herausforderung: Einerseits müssen die Planungen auf einer sachlichen Faktenbasis stehen, um Bedarfe und Vorgaben erfüllen zu können. Studien und Gutachten liefern dafür die notwendigen Erkenntnisse. Dem gegenüber stehen die Emotionen der Menschen vor Ort: Ängste und Befürchtungen, die durch spürbare Veränderungen hervorgerufen werden. Es besteht also ein Gegensatz zwischen der rationalen Perspektive auf der Planungsseite und der emotionalen Perspektive auf der Betroffenenseite. Dieser Gegensatz führt oft dazu, dass die Menschen den Argumenten der Planenden misstrauen.

Das kennt die HPA: Auch Studien im Zusammenhang mit der Tideelbe wird oft misstraut. Ohne Vertrauen kann jedoch keine konstruktive Debatte entstehen. Daher wollte die HPA wissen, was Vertrauen in Wissenschaft, Studien und Institutionen bedingt.

Das haben Sie wissenschaftlich untersucht. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Wir haben vier Fallbeispiele ausgewählt. Dabei handelt es sich um Infrastrukturprojekte in der Tideelbe und im Humber, einer anderen großen Flussmündung in Großbritannien. Wir haben die Reaktionen auf Studien, die in diesen Projekten erstellt wurden, ausgewertet und verglichen. Dazu haben wir Interviews durchgeführt sowie Dokumente und Presseberichte analysiert.

Kreisdiagramm mit den Begriffen ‚Vertrauen‘ (oben) und ‚Misstrauen‘ (unten). Um das Diagramm herum stehen vier Fragen, die Einfluss auf Vertrauen in wissenschaftliche Aussagen haben können.
Viele Faktoren beeinflussen das Vertrauen in wissenschaftliche Studien und Institutionen.

An welche Erkenntnisse haben Sie angeknüpft: Was ist bereits bekannt zum Vertrauen in wissenschaftliche Studien und Institutionen?

Bekannt ist, dass mehrere Faktoren das Vertrauen von Menschen in wissenschaftliche Studien beeinflussen. So müssen ihnen die Ergebnisse einer Studie plausibel erscheinen: Widersprechen die Aussagen ihren Alltagserfahrungen, werden die Menschen skeptisch. Weiterhin ist wichtig, für wie vertrauenswürdig sie die wissenschaftlichen Akteurinnen und Akteure hinter der Studie halten. Auch persönliche Motive, Einstellungen sowie deren Wurzeln sind von Bedeutung. Schließlich spielt auch eine Rolle, wie sogenannte Intermediatoren, also beispielsweise Medien oder Interessensvertreter:innen, die Ergebnisse wiedergeben.

Sie haben sich konkret mit wissenschaftlichen Studien zu Infrastrukturvorhaben beschäftigt. Welche Rolle spielt das Thema Infrastruktur, wenn es um Vertrauen geht?

Das Vertrauen in eine bestimmte Studie hat in der Tat nicht nur mit den Menschen zu tun, die diese Studie erstellen, verbreiten und lesen, sondern auch mit ihrem Thema. Zum Beispiel hängt es von den eigenen Erfahrungen mit diesem Thema ab. Viele Menschen haben etwa Vertrauen in die Technik eines Aufzugs, den sie alltäglich benutzen. Dagegen sind Themen wie Gentechnik, Künstliche Intelligenz oder Nanotechnologie für die meisten schwerer greifbar – und damit weniger vertrauenserweckend. Aber auch einfacheren Technologien wird häufig mit Misstrauen begegnet, etwa beim Bau von Windkraftanlagen. Das ist oft mit tieferliegenden Ängsten zu erklären – Stichwort ist hier z. B. Infraschall.

Wichtiger als das Thema ist in der Regel jedoch die Projektgeschichte. Infrastrukturprojekte wirken sich immer auf Leben und Alltag der Menschen vor Ort aus. Möglicherweise haben die Betroffenen mit den handelnden Akteur:innen, etwa einer Stadtverwaltung, in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht. Dann werden sie neuen Studien, die von dieser Verwaltung nun in Auftrag gegeben wurden, kaum vertrauen. Umgekehrt bauen gute Erfahrungen Vertrauen auf. Die Projekthistorie ist entscheidend für die Einstellung der Bevölkerung gegenüber einem Projekt.

Auch zur Tideelbe gibt es eine lange Projektgeschichte.

Absolut. Unsere Untersuchung hat bestätigt, dass auch an der Tideelbe die öffentliche Wahrnehmung jedes neuen Vorhabens vorgeprägt ist – und zwar durch eine Historie, die lange zurückliegende Vorhaben umfassen kann, selbst wenn diese keinen direkten Bezug zur aktuellen Maßnahme haben. Dies wirkt sich auf das Vertrauen aus, das neuen Gutachten und Erkenntnissen entgegengebracht wird. Sie werden nicht als wissenschaftlich neutral wahrgenommen, sondern als Auftragsforschung.

Haben Sie dieses Phänomen auch am Humber beobachtet oder gibt es im Vergleich zu Großbritannien auch Unterschiede?

Tatsächlich haben wir viele Gemeinsamkeiten festgestellt. Auch die britischen Kolleginnen und Kollegen sehen sich vor der Herausforderung, die komplexen Zusammenhänge als Grundlage vieler staatlicher Entscheidungen zu erklären. Einige gute Ideen ließen sich vielleicht auch in Deutschland umsetzen. Beispielsweise haben die Briten im Rahmen der Aktion „Wissensvermittlung über den Frühstückstisch“ Jugendliche dazu animiert, in ihrem Umfeld in lockerer Atmosphäre über kritische Themen zu sprechen. Der britische Ansatz zielt stark darauf ab, die Menschen im gegenseitigen Dialog, darin zu schulen, selbst die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das stärkt dann auch das Vertrauen in die Entscheidungen der Institutionen.

Was kann die HPA tun, um Vertrauen zurückzugewinnen?

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Haltung gegenüber Gutachten zur Tideelbe sich nicht maßgeblich von anderen Infrastrukturvorhaben unterscheidet. Für die HPA ergeben sich aus unserer Untersuchung drei Empfehlungen für die Debatte um die Tideelbe:

Zum einen ist es wichtig, neue Erkenntnisse verständlich zu übersetzen und über unterschiedliche Kanäle zu transportieren. So hilft die HPA den Bürgerinnen und Bürgern dabei, neue Erkenntnisse zu verstehen und einzuordnen. Die Tideelbe ist ein sehr komplexes Thema, Studien und Gutachten bedienen sich zudem oft einer fachlichen Sprache. Ohne Erklärung können die Informationen abweichend interpretiert werden. Denn wenn Informationen dem eigenen Erleben widersprechen, ziehen die Menschen ihre eigenen Schlüsse: Entweder fühlen sie sich getäuscht oder sie beziehen ihre Interpretationen von anderen „Übersetzern“ – also etwa den Medien oder einzelnen Akteurinnen und Akteure. Neben Verständlichkeit ist auch Offenheit auf Seiten der Forschenden und Gutachtenden wichtig – also die Bereitschaft, die Menschen und ihre Einwände ernst zu nehmen sowie gegebenenfalls auch Fehler offen einzugestehen.

Unsere zweite Empfehlung: Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Gesicht geben. So lässt sich zum einen zeigen, dass hinter den Studien Menschen stehen, die wissenschaftliche Prinzipien ernst nehmen. Zum anderen geht es darum, sie stärker zu Wort kommen zu lassen und Austauschmöglichkeiten mit Betroffenen zu schaffen. So können die Forschenden Sachverhalte erklären und beweisen, dass die Wissenschaft auch im Interesse der Menschen vor Ort handelt.

Menschen, die bereits stark durch die Projekthistorie vorgeprägt sind, kann die HPA so jedoch nur schwer erreichen: Wenn einmal Misstrauen entstanden ist, verstärkt jede weitere Studie den Konflikt. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden. Das gelingt am besten – so unsere dritte Empfehlung – indem die Betroffenen intensiv bei der Erstellung neuer Studien eingebunden werden. Und zwar möglichst schon, bevor sie in Auftrag gegeben werden.

Wie könnte das in der Praxis konkret aussehen?

Dialogformate eignen sich besonders gut, um nachhaltig Vertrauen aufzubauen und zu stärken. Darunter verstehen wir Gremien und Plattformen, in denen sich Wissenschaft, Betroffene, Politik und alle weiteren relevanten Akteur:innen zusammenfinden und austauschen. Diese Formate begleiten eine Maßnahme längerfristig: Sie legen gemeinsame Ziele fest, stecken frühzeitig Bedarfe für Studien ab und ermöglichen die offene Diskussion im weiteren Entstehungsprozess. Das Forum Strombau- und Sedimentmanagement Tideelbe und auch dieses Tideblog sind gute Beispiele für mehr Transparenz und Beteiligung. Hier gilt es jetzt, am Ball zu bleiben.

 

Die ganze Studie finden Sie hier oder auch in unserem Downloadbereich.

Fragen und Antworten zum Thema Vertrauen in Fakten und Wissenschaft an der Tideelbe

 

Vertrauen in Wissenschaft und Forschung ist die Grundlage für eine sachliche, faktenbasierte Debatte über Infrastrukturmaßnahmen an der Tideelbe. Wenn Bürger:innen wissenschaftlichen Erkenntnissen misstrauen, wird eine konstruktive Diskussion schwierig. Nur wenn wissenschaftliche Studien nachvollziehbar und glaubwürdig erscheinen, können Entscheidungen rund um die Tideelbe gemeinsam getragen und akzeptiert werden.

 

 

Das Vertrauen in die Wissenschaft hängt von mehreren Faktoren ab:

  • Plausibilität der Ergebnisse: Stimmen wissenschaftliche Aussagen mit den Alltagserfahrungen überein?
  • Glaubwürdigkeit der Forschenden und Institutionen: Werden die Wissenschaftler:innen als unabhängig und kompetent wahrgenommen?
  • Transparente Kommunikation: Wie klar und verständlich werden komplexe Erkenntnisse vermittelt?
  • Projektgeschichte: Haben die Betroffenen in der Vergangenheit positive oder negative Erfahrungen mit den Institutionen gemacht?
  • Persönliche Erfahrungen: Haben die Betroffenen grundsätzlich Vertrauen in die Welt?

 

 

Für die HPA ist Vertrauen in Wissenschaft entscheidend, um Projekte an der Tideelbe sachlich und gemeinsam mit der Bevölkerung umzusetzen und um Akzeptanz und Verständnis für ihre ständige Arbeit zum Erhalt und zur Entwicklung der kritischen Infrastruktur zu erlangen, die die Versorgung und den Wohlstand der Bevölkerung sicherstellt. Um zu verstehen, wie Vertrauen entsteht, ließ die HPA gemeinsam mit der ifok GmbH und dem Progressiven Zentrum untersuchen, warum Menschen wissenschaftlichen Studien misstrauen – und wie Vertrauen gezielt aufgebaut werden kann.

 

 

Die Studie betrachtete vier Fallbeispiele – zwei in Deutschland (darunter die Tideelbe) und zwei im britischen Humber-Gebiet. Forschende analysierten Reaktionen auf wissenschaftliche Studien, führten Interviews und werteten Presseberichte aus. So konnten Muster erkannt werden, wie Vertrauen und Misstrauen entstehen. Auch andere gesellschaftliche Bespiele wurden zum Vergleich herangezogen.

 

 

Die Untersuchung zeigt: Vertrauen in Wissenschaft entsteht nicht allein durch Daten und Fakten, sondern durch Verständlichkeit, Offenheit und Beteiligung. Empfohlen wird, Erkenntnisse verständlich zu kommunizieren, Forschende sichtbar zu machen und Betroffene früh einzubinden.